Die philosophischen Gedanken des Ausgucks

Datum: 27. Dezember 2017
Position: 12°09,9’N, 072°35,8’W
Etmal: 124 NM
Wetter: Wasser 25°C, Luft 27°C, Windstärke 5
von Isa

Ich sitze in meiner Wache nach einem langen Tag voll von Entscheidungen über zukünftige Ziele, Süßigkeitenteller, so süß, dass uns allen immer noch ein wenig schlecht ist, voll von Expi-Gruppen-Planung, ein Thema mit sehr viel Diskussionsbedarf, welches uns an diesem Tag alle sehr beschäftigt hat, und der Wahl der neuen Schülersprecher (Jerit und Milena). Ich lasse den Tag Revue passieren und bin ziemlich kaputt, da ich aufgrund von Referatsvorbereitungen, Aufgaben, die ich so zu erledigen hatte, und einer 2 Stunden langen Schülerversammlung mal wieder nicht zum Schlafen gekommen bin. Die Zeit wurde in der Nacht umgestellt. Eigentlich sollte ich deshalb eine Stunde mehr geschlafen haben, aber irgendwie spüre ich diese Stunde weniger als erhofft. „Wer geht in den Ausguck?“, reißt mich Peters (mein Toppsgast, Wache 8-12) Stimme aus meinen Gedanken. Da ich diese Wache bis jetzt nur Ruder gegangen bin und ich um das Ausguckgehen in den kleinen Wachen eh nicht herumkomme, melde ich mich. „Ich mach das!“, erkläre ich mich bereit. Peter bedankt sich und ich mache mich von der Brücke auf in Richtung Ausguck. Noch während ich aufstehe, bereue ich meinen Tatendrang ein wenig, da auf der Brücke ein spannendes Gespräch aufkommt.

Egal… Ich löse den alten Ausguck ab, lehne mich gegen die Steuerbordnagelbank und schaue in die Ferne. Ich schaue auf die Uhr, es ist 21:30 Uhr. Zu Hause ist es jetzt 02:30 Uhr, ob meine Freunde wohl noch wach sind? Was die wohl gerade machen? Wahrscheinlich schlafen. Das sind Fragen, die einem in solchen Momenten der Stille durch den Kopf schießen. Man überlegt sich, wie es wäre, wenn man in diesem Moment zu Hause wäre. Dann kommt meist der Knoten im Kopf, was genau man hier eigentlich macht, und ich habe es bis jetzt kein einziges Mal geschafft, diesen Knoten zu lösen. Es ist der 27.12.17, also normalerweise tiefster Winter, und ich stehe hier in kurzen Sachen und schaue auf die Karibische See, ob irgendetwas am Horizont zu sehen ist. Wie soll man so etwas denn begreifen?! Im normalen Bordalltag ist immer so viel los, da hat man gar keine Zeit, über das Ganze hier nachzudenken (vielleicht ist das auch ganz gut so, sonst würde mein Kopf bestimmt manchmal platzen). Aber wenn dann mal Ruhe ist und man nur mit sich und dem Horizont beschäftigt ist, schießen einem dann diese ganzen Gedanken bzw. Fragen auf einmal in den Kopf. 2,5 Monate unterwegs, gerade war Weihnachten, bald ist Silvester und wir steuern auf Panama, ein Land, das ich nur aus Liedern und Kindergeschichten kenne, zu! In moderner Sprache würde man sagen: „WTF, ist das alles krass“. Man hatte Vorstellungen darüber, wie es werden und was man erleben würde, aber so richtig verstanden, dass es jetzt so weit ist, hat man nicht.

Ich dachte nicht, dass ich die Menschen hier an Bord so lieb gewinnen werden, dass ich mich für Dinge interessiere und Prioritäten an Stellen setzte, die ich noch vor 2 Monaten niemals gesetzt hätte. Aber ich hätte auch nicht gedacht, wie hart es dann doch manchmal wird und man ganz banale Sachen von zu Hause plötzlich unglaublich vermisst. Und dabei geht es wirklich um ganz kleine Dinge, die man daheim überhaupt nicht wertschätzt. Wie zum Beispiel jederzeit an den Kühlschrank gehen und sich Essen holen zu können oder mal so richtig viel Zeit für sich selbst haben, so richtig „rumgammeln“ zu können, denFernseher einschalten und einfach die Zeit vergessen können, befreit von dringenden Verpflichtungen. Seinen Alltag selbst gestalten oder einfach rausgehen und beim Sport mal so richtig alles rauslassen zu können. Oder aber auch einfach die kleinen Dinge des heimischen Alltags selbstverständlich zu leben, die man dort aber gar nicht so bewusst wahrnimmt. Ganz deutlich hat man das natürlich an Weihnachten bemerkt, als nach der Bescherung viele dasaßen und sich die Briefe von zu Hause durchlasen. Alle in sich gekehrt und ein wenig traurig darüber, diese beständigen Dinge jetzt nicht haben zu können. Aber dann schaut man sich wieder um, realisiert, was man hier gerade erlebt, und kann gar nicht traurig sein. Man sieht die Menschen, mit denen man das hier erlebt, und wie viel Mühe sich alle geben, dass alle zufrieden sind und die Gemeinschaft funktioniert. Man kriegt hier immer wieder das direkte Resultat von dem, was man leistet, zu spüren und ist in gewisser Weise stolz, dass man so viel über sich hinauswächst und all diese Kompromisse eingeht.

Ich versuche immer wieder das Erlebte irgendwie in diesen kurzen Phasen, in denen man nachdenkt, zu verarbeiten, aber wie schon gesagt, dafür ist es viel zu viel. Und das war gerade mal ein Drittel der Reise! Uns erwartet noch so viel mehr! Diese ganze Reise ist einfach voller Erlebnisse, neuer Gefühle und Erfahrungen, die man gar nicht einordnen kann, die man wahrscheinlich erst begreift, wenn es vorbei ist und während man seine Tagebucheinträge liest – und vielleicht nicht einmal dann. Ich unterbreche meinen Gedankenexkurs, wechsle die Seite zur Backbordnagelbank und positioniere meine Beine gemütlich auf unserem schiffseigenen Pool! Ich versinke mal wieder in meine Gedanken und ende einmal mehr an dem Punkt des „Nicht-darauf-Klarkommens“. Bevor ich komplett in meinem Kopf verschwinde und mich schon viel zu philosophisch fühle, kommt Ly und löst mich ab. Ich kehre direkt aus meiner Gedankenwelt zurück in der Normalität des Bordalltags, bewege mich zurück auf die Brücke und führe dort sehr interessante Gespräche über Gruppenkonflikte und darüber, wie man sich am besten mit 30 Leuten auf Dinge einigt, ohne am Ende allen den Kopf abreißen zu wollen.
Isa

P.S.
1. Ich hoffe ihr hattet ein schönes Fest, ich hab Weihnachten zu Hause sehr vermisst! Hier war es aber auch sehr schön. Guten Rutsch! – Isa an Mama, Papa, Felix & Co
2. Happy Birthday Stellivia, hab dich lieb und vermisse dich, hoffe du hattest einen tollen Tag (Milena)
3. LG von L und A an L und A. ps: Meinen Kopf kann ich inzwischen doch mit ins Rigg nehmen – das Klettern bis zur Royal klappt ganz hervorragend! 😉
4. Yuli, du bist großartig, vielen, vielen Dank für dein Päckchen! Du hast recht, Weihnachten in der Sonne fühlt sich bisschen komisch an – aber Vanille-Kipferl und Spekus schmecken auch hier (Johanna)