Wohin des Wegs?

Datum: 15. Dezember 2017
Position: 14°29,9’N, 056°1,55’W
Etmal: 118 NM
Wetter: Wasser 27°C, Luft 28°C, Windstärke 4
von Paul

Mit der rechten Hand halte ich es am obersten Punkt. Mit der anderen seitlich. Eigentlich gibt es kein Oben, aber ich nenne es jetzt mal Oben. Lackiertes Holz liegt mir zwischen den Fingern. Leicht abgenutzt und schon ein wenig rau, doch eigentlich ist es noch sehr schön und ein echtes „Muss“. Da stehe ich am Ruder. Die Sonne strahlt mit 30 Grad aufs Deck. Unter dem Sonnensegel auf der Brücke ist es angenehm. Ein lauer Wind streift an meiner rechten Schulter vorbei. Kühl und erfrischend. Neuer Kurs: Zwei-Vier-Fünf wird mir gesagt. Ich wiederhole pflichtbewusst: „Zwei-Vier- Fünf.“ Das Meer ist leicht aufgebraust und ich muss achtsam sein, aber das bin ich. Ich lege das Ruder zwölf Grad steuerbord. Die Roald befindet sich bei Kurs Zwei-Vier-Drei. Langsam drehen wir wieder nach steuerbord. Zwei-Vier-Drei – Zwei-Vier-Vier. Im Rhythmus der Wellen zieht sie ruhig ihren Weg durch das Wasser. Auf direktem Kurs nach Martinique. Zwei-Vier-Fünf. Mein Steuermann fragt mich, was denn anliege. Ich antworte: „Zwei-Vier-Fünf, Kurs liegt an.“ Zufrieden nickt er und dreht sich wieder um. Er blickt in die Ferne, verfolgt die Wellen und den Horizont.

Neben mir bemerke ich eine Stimme, doch in Gedanken bin ich immer noch woanders. Erst als ich das zweite Mal meinen Namen höre, drehe ich mich um. Neben mir steht ein Junge in einem khaki- farbigen T-Shirt. Er ist leicht größer als ich, das Haar hängt ihm ins Gesicht und er lächelt ein wenig verschmitzt. „Hey?“, fragt er mich ein weiteres Mal. „Ja“, antworte ich verträumt. „Welchen Kurs fährst du?“ Ich schaue kurz auf und lenke dann wieder meinen Blick auf den Kompass. Zwei-Vier-Sechs liegt gerade an. Ich müsste mal wieder zurücksteuern. Zwei-Vier-Fünf soll ich ja fahren. Mir fällt ein, dass ich dem Jungen noch eine Antwort schulde. Ich antworte ihm: „Kurs Zwei-Vier-Fünf soll ich fahren.“ Er wirft noch einen schnellen Blick auf meinen Kompass, schmunzelt, murmelt noch irgendetwas vor sich hin, was ich aber nicht mehr verstehe. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck entfernt er sich in einem raschen Tempo. Im Augenwinkel sehe ich noch seinen Schatten hinter dem Deckshaus verschwinden. Ich konzentriere mich wieder auf mich und den Kompass. Seit 43 Minuten stehe ich nun schon hier. Ein kurzer Blick auf die Ruderlageanzeige verrät mir: immer noch zwölf Grad steuerbord. Ich denke kurz nach und lege das Ruder wieder auf neun Grad steuerbord. „Klar zum Setzen der Fock“, trägt der Wind in mein linkes Ohr. Viele schnelle und rasche Schritte entfernen sich von der Brücke, es wird mit Tampen hantiert und ich höre weitere Kommandos, die mich aber nicht betreffen.

Ich wende meinen Blick auf das Ruder und dann wieder auf den Kompass: Zwei-Vier-Vier. Alles im grünen Bereich. Damit das so bleibt, lege ich das Ruder abermals, dieses Mal aber auf nur auf elf Grad steuerbord. Schritte nähern sich der Brücke, aber es ist nicht die Wache, die von ihrem Manöver zurückkehrt, sondern mein Steuermann. „Neuer Kurs: Zwei-Vier-Null!“, höre ich. Ich entgegne und bestätige: „Neuer Kurs: Zwei-Vier-Null“. Flink lege ich das Ruder auf fünf Grad steuerbord. Zwei-Vier-Fünf – Zwei-Vier-Vier. Um auszugleichen, lege ich das Ruder schon mal auf acht Grad steuerbord. Gemächlich bewegt sich die Roald nach backbord. Zwei-Vier-Null – Zwei-Drei- Neun. Knapp über das Ziel hinaus. Zwei-Drei-Neun – Zwei-Vier-Null. Nochmal alles gut gegangen. Ich blicke kurz auf und halte nach meinem Steuermann Ausschau. Ich finde ihn in der hinteren Ecke steuerbords auf der Brücke. „Kurs liegt an!“, rufe ich zu ihm hinüber. Er grummelt ein kurzes „Danke“ vor sich her, ich nehme mal an, dass er mich damit gehört hat.

Die Glocke läutet und eine Schar Schüler versammelt sich unmittelbar an Deck direkt neben dem mittleren Niedergang. Es ist halb Vier und ein Kuchenblech schwebt von der Kombüse durch die Menschenmenge. Zufriedene Gesichter bemerke ich am Rande, schmatzend und strahlend über den vorzüglichen Streuselkuchen. „Mann am Rohr geht vor“, höre ich aus der Menge heraus und sofort wird ein Stück Kuchen in Richtung Brücke gegeben. Mit dem „Mann am Rohr“ bin wohl ich gemeint und man bringt mir ein Stück Kuchen. Besonders groß und besonders lecker. Ich muss aufpassen, nicht alles auf einmal zu essen, denn der Kuchen schmeckt echt gut. Als sich das letzte Stück Kuchen vom Blech entfernt und die letzten Krümel aufgeklaubt sind, löst sich die Menge wieder und es wird ruhiger. Und ich? Ich stehe immer noch am Ruder.
Paul

P.S.:
1. Paul grüßt seine Familie und wünscht Frohe Weihnachten.
2. Johanna grüßt die Albatros-Winterarbeiter – passt gut auf unseren Vogel auf
3. Viele liebe Grüße und einen schönen 3. Advent an alle „Langener“, „Niersteiner“ und besonders ii, ich freue mich euch bald wieder zu sehen. Euer Friedrich