Sternstunden: Von persönlichen Erfolgserlebnissen und schönen Momenten (Teil I)

Datum: 01. Dezember 2017
Position: 16°57,2’N, 030°37,6’W
Etmal: 82 NM
Wetter: Wasser 26°C, Luft 27°C, Windstärke 4
von Katharina

Der Tag beginnt für mich bestens: Ich wache in meiner schon nicht mehr als ganz so überhitzt wahrgenommenen Koje bzw. Kammer auf – sehr zu meiner Freude das erste Mal seit drei Tagen sogar OHNE Kopfdruck und Schweißfilm auf der Haut. Ich stelle fest: Das von Isa empfohlene feuchte Funktionshandtuch hat also seinen Zweck erfüllt und die Hitzeplage tatsächlich gebannt. Einfach Gold wert der Tipp, denke ich und lasse mich erleichtert und entspannt für einen klitzekleinen weiteren Moment zurück in mein Kopfkissen fallen, denn erfreulicherweise darf ICH diesen Tag – dank der Tatsache, dass ich mein Unterrichtspensum für diese Woche schon „abgeleistet“ habe – als unterrichtsfreien Tag betrachten. Ich habe heute Morgen also Zeit für eine lauwarme (26 Grad Wassertemperatur), aber im Fahrtwind dennoch erfrischend-kühlende Salzwasserdusche mit der Pütz, die ich Achterdecks ausgiebig genieße (= in Zeiten der durch den Maschinisten, Andreas, mit liebevollen Adlersaugen streng bewachten (Süß-)Wasserrationierung angle ich mir OHNE schlechtes Gewissen statt vier Pützen gleich acht Pützen aus der großzügigen „Atlantik-Quelle“).

Danach bin ich bereit für die nächste Großtat an Bord: Die Tagesmeldung – heute einmal selber – zu verfassen . Das gestrig abendliche „Achterngespräch“ mit Annkatrin (z.Z. Deckshand der 0-4-Wache), bei dem wir auf die Weite des Mond beschienenen Atlantiks blickend über persönliche Erfolgserlebnisse und schöne Momente des bisherigen Törns ins Philosophieren gerieten und uns über Schüler, die immer mehr über sich hinauswachsen, freuten, inspirierte mich dazu, mich nun bewaffnet mit einem Stift, einem Block und zwei Fragen – es ist Zeit für eine kleine „Bestandsaufnahme“ – auf die Brücke zu setzten, wo ich zunächst Verena, Greta, Rosa, Vroni und Martin antreffe. Auf meine beiden Fragen:
1. Was ihr größtes persönliches Erfolgserlebnis und
2. Was ihr schönstes Erlebnis auf der bisherigen HSHS-Reise war, werden mir folgende Antworten gegeben:

Verena: 1. “ …, dass das mit der Organisation des wechselnden Ablaufs von Schule und Wache im Bordalltag so reibungslos gut läuft, weil die Stammcrew diesen veränderten Bordbetrieb so engagiert mitträgt.“
2. „Mein Sprung in den Atlantik direkt aus dem Klassenzimmer (Deck der Roald) nach einer meiner Erdkunde-Unterrichtsstunden vor Selvagem Grande.“

Greta: 1. “ …, dass ich in der Sturmnacht auf der Etappe Kiel-Vigo bei 7-8 Windstärken, 9 Knoten Fahrgeschwindigkeit und 5 Meter hohen Wellengang zunächst die Segel der Vor-Bram und danach als einzige Schülerin zusammen mit drei Stammcrew-mitgliedern das Segel der Groß-Bram beigefangen habe.“
2. „Ein einzelnes „großes Highlight“ kann ich nicht benennen. Es gibt viele „kleinere Highlights“, die ich bisher erlebt habe, unter anderem zum Beispiel das Schwimmen in der Biskaya mit 4000 Metern Wassertiefe unter mir, die Wal-Sichtung auf der Etappe Vigo-Teneriffa und die Dinghi-Fahrt um die Roald herum vor Selvagem Grande.“

Rosa: 1. “ …, das gemeinsame Segelpacken auf der Obermas bei starkem Wind und Seegang im Dunklen vor Porto Santo, denn das hat zum ersten Mal völlig „angst- und unsicherheitsfrei“ richtig gut geklappt – und das obwohl ich kaum etwas sehen konnte, da ich meine Brille nicht dabei hatte.“
2. „Der gemütliche Abend an Deck vor Anker der Insel Selvagem Grande, an dem wir gemeinsam mit dem Kapitän (Reiner) Musik gemacht und gesungen haben; der gestrige Wachwechsel (30.11.17), bei dem die Wache 3 unserer Wache 1 bei warmen Temperaturen „Schneeflöckchen“ vorgesungen hat; fröhlich-ausgelassene Backschaften mit Musik und gemeinsamen Gesang.“

Vroni: 1. “ …, dass mir unser Kapitän (Thomas) im Hafen von Cherbourg zugetraut hat, das Dinghi im Dunklen zu fahren, obwohl ich keine Vorkenntnisse hatte – und dass das echt gut geklappt hat!“
2. „Besonders schön war (und ist es immer wieder), auf der (ersten) Saling zu liegen und den Sternenhimmel zu genießen.“

Martin: 1. “ …, dass ich als „Toppsi des Tages“ (Schüler bzw. in diesem Fall Lehrer, der für einen Tag die Rolle des Toppsgasten übernehmen darf) das Brigg-Segel setzten durfte und dass das mit der Verproviantierung für die Etappe Teneriffa-Martinique gut geklappt hat!“
2. „Als ich um 9:00 Uhr morgens mitten auf dem Teide telefonisch von Jörg mittgeteilt bekommen habe, dass ich mich nicht mehr um den Einkauf und das Verproviantieren des Gemüses, des Obstes, des Käses und des Fleisches kümmern muss, weil das freundlicherweise Greta, Johanna, Lilly und Jörg – nach sensationeller Instruktion meinerseits im Vorfeld – übernommen haben.

Während ich meine „Befragung“ durchführe, intensiv zuhöre, mit dem Notieren kaum noch hinterherkomme – und immer wieder die Antworten begrenzen muss, weil die Erinnerungen – vor allem an schöne Erlebnisse und Momente – „überzu-sprudeln“ beginnen, hat die Besatzung der „Brückenhocker“ gewechselt. Zum gemütlichen Verzehr ihres Mittagessens haben sich derweilen Paul, der das Ruder übernommen hat, Christine, Yara, Annika, Lilly, Max und Will versammelt. Nach einer Weile gesellen sich auch Rasmus, Johanna und Jörg dazu. Ich nutze die Gelegenheit, um auch ihnen Antworten auf meine beiden Fragen zu entlocken – und werde nicht enttäuscht:

Paul: 1. “ …, dass ich im Hafen von Cherbourg beim Dinghi-Fahren mit dem Kapitän (Thomas) ein „perfektes Anlege-Manöver hingelegt habe“ (O-Ton des Kapitäns).
2. „Am besten hat mir bisher das Kapitänsdinner in Vigo mit dem wunderschönen Sonnenuntergang und die Schiffsarbeit „freihängend“ auf Höhe der ersten Saling in der Nähe des Masten gefallen, als die Sonne das Segel in warmen Farbtönen beleuchtete und ein Wal um das Schiff herumschwamm, der im sonnenbeschienen Meerwasser blau schimmerte. Von meinem erhöhten Arbeitsplatz hatte ich die beste (Um-)Sicht auf ihn!“

Christine: 1. “ …, dass ich in 4 Stunden und in einer schwankend-überhitzen Kombüse erfolgreich einen Käsekuchen für 45 Leute gebacken habe.“
2. „Am ersten Dezember bei 27 Grad mitten auf dem Atlantik „Käsekuchen mampfend“ Weihnachtslieder zu singen; Sichtung von Walen, Delfinen und Leuchtplankton; Rudergängerin bei der Einfahrt in die Bucht vor Vigo gewesen zu sein; mitzuerleben, dass es alle Schüler auf den Teide geschafft haben – dass alle gekämpft und Ausdauer bewiesen haben und damit ans Ziel gekommen sind.“

Yara: 1. “ …, dass ich es als Asthmatikerin ohne Beschwerden hoch auf den Teide geschafft habe.“
2. „Die Sichtung von Walen und Delfinen in freier Wildbahn.“

Annika: 1. “ …, „Mein“ Anker-Manöver vor Vigo“ (= Anker fallen lassen und am nächsten Morgen Ankerhieven).
2. „Die Sturmnacht auf der Etappe Kiel-Vigo und die Nacht, in der ich als Rudergängerin die ganze Zeit gesungen habe.“

Lilly: 1. “ …, dass ich auf der Royal (= ca. 30 Meter Höhe) war, um Segel zu packen.“
2. „Sichtung des ersten Wales (getauft Gustav) in freier Wildbahn vor Porto Santo ganz nah am Schiff.“

Max: 1. “ …, dass ich zusammen mit Tamina als erster und recht problemlos auf der Gipfelspitze des Teides angekommen bin.“
2. „Das Großstadt-Kontrastprogramm: Die unglaubliche Aussicht und Weite in absoluter Stille auf dem Gipfel des Teides und der Sternenhimmel auf See.“

Will: 1. “ …, dass ich es trotz Anzeichen von Höhenkrankheit geschafft habe, den Gipfel des Teides zu erklimmen, sowie die Seekrankheit überwunden zu haben.“
2. „Unglaubliche Naturerlebnisse: Die Sichtung von Walen, Delfinen und Leuchtplankton sowie schöner Sonnenaufgänge und -untergänge; das gute Wetter/ die warmen Temperaturen und die ersten Palmen; mein Sprung vom Klüverbaum ins Meer (= 8 Meter Höhe).“

Rasmus: 1. “ …, dass ich auf der Etappe Vigo-Teneriffa trotz meiner Höhenangst nachts beim Riggspaziergang hoch auf die Royal (= ca. 30 Meter Höhe) geklettert bin.“
2. „Das Baden vor Selvagem Grande und mein Sprung vom Klüverbaum ins Meer (= 8 Meter Höhe); die Dinghi-Fahrt durch die Wellen vor Porto Santo mit Ronald.“

Johanna: 1. “ …, dass ich mit nur einer Wachbesetzung kurz hintereinander zuerst eine Wende und dann eine Halse gefahren bin.“
2. „Die erste Sichtung eines Wals (Gustav) in freier Wildbahn ganz nah bei der Roald.“

Jörg: 1. “ …, das Ablegen vom Hafen „Porto Santo“ unter Segeln.“
2. „Der gesamte Aufenthalt auf der Ilha Selvagem.“

Inzwischen (ca. 13:00 Uhr) hat sich das Hauptgeschehen an Bord nach Mittschiffs verlagert. Die Backschaft (Tom B. und Janik) sitzt umgeben von Kisten voll mit dreckigem Geschirr und benutzen Bestecken auf der Backbordseite und wäscht es „süßwassersparfüchsig“ mit Salzwasser vor. Kollegial werden sie dabei von Theo M. unterhalten, der nach seiner 8-12-Wache mit Minimalbesatzung ein wenig danach aussieht, als könnte auch er eine „achtpützige Achterndusche“ vertragen. (Das mich mein Eindruck nicht getäuscht hat, kann ich zwei Stunden später an den frisch „achterngeduschten“ und zufriedenen Janik-Theo-Gesichtern ablesen – glücklich über die gelungene, weil (fast) unentdeckte, kleine Wasserschlacht.) Auf der Backskiste steuerbords sitzt Ly mit ihren Schulsachen – ihr Blick verweilt hochkonzentriert in den Fernen des tiefblauen Atlantikwassers. Auch hier werden die aktuellen Tätigkeiten kurzweilig unterbrochen, um einen Moment lang ernsthaft über meine beiden Fragen nachzudenken und mir bereitwillig Antwort zu geben:

Ly: 1. “ …, die Besteigung des Teides; dass ich mit so vielen Menschen auf sehr engem Raum über einen jetzt schon längeren Zeitraum gut und entspannt zusammenleben kann und zurechtkomme und mein „8-Meter-Sprung“ vom Klüverbaum ins Meer.“
2. „Als ich in einer warmen Nacht auf die Rah der Vor-Obermas geklettert bin: Ein wunderschöner Sternenhimmel über mir, das von Leuchtplankton glitzernde Meer unter mir = Sterne also über und unter mir = „Weltallschwebegefühl“; die „Urlaubstage vor Selvagem Grande = Schwimmen, Hängematte und Co. …“

Tom B.: 1. “ …, dass ich die Seekrankheit und die „Sturmnacht von Cherbourg“ gut überstanden habe und auch „einfach“ die Tatsache, dass ich auf dieser besonderen Segelreise einer der „Auserwählten“ bin, die mit dabei sein können!“
2. „Die entspannten Tage vor Anker der Insel Selvagem haben mir bisher besonders gut gefallen. Einfach ins warme Meerwasser zu springen und dort zu schnorcheln – das war großartig!“

Janik: 1. “ …, dass ich auf die Royal geklettert bin (= 30 Meter Höhe) und dort die Segel ausgepackt habe.“
2. „Zu meinen bisherigen Highlights zählt die Teide-Besteigung und dass ich seit Teneriffa (endlich!!!) seefest bin!“

Theo M: 1. “ …, dass ich mich für die HSHS-Reise entschieden und das Bewerbungsverfahren erfolgreich „bestanden“ habe.“
2. „Die entspannten Tage vor Selvagem Grande, die Teide-Besteigung und die Sonnenuntergänge auf See gehören definitiv zu meinen bisherigen Highlights.“

Derweilen die dritte Seite mit Notizen gefüllt, möchte ich für eine kleine Schaffenspause meinen Block auf der Brücke deponieren und mir einen wohlverdienten Kaffee aus der Messe holen gehen. Auf dem Weg dorthin läuft mir Benedict über den Weg. Der will – wie fast immer – nach Achtern, um seine Angelschnüre zu kontrollieren. Das mit der Kaffeepause wird auf einen unbestimmten Zeitpunkt vertagt, denn auch Lukas, Jerit und Tom L. haben sich von Achtern in Richtung Brücke begeben. Der perfekte Moment für mich sie „abzufangen“ und sie mit meinen beiden Fragen „zu behelligen“ . Auch hier wird zunächst sorgfältig nachgedacht, bevor mir geantwortet wird:

Benedict: 1. “ …, dass ich die Reise schon so lange mitmache – dass wir schon so weit gen Süden gekommen sind.“
2. „Die Sonnenuntergänge vorne an Deck genieße ich sehr!“

Lukas: 1. “ …, dass ich mit dem Kapitän (Thomas) und nur fünf weiteren Mannschaftsmitgliedern in der „Sturmnacht von Cherbourg“ beide Toppen komplett rundgebrasst habe.“
2. „Die Teide-Besteigung und die Wal-Sichtung (Gustav) auf der Etappe Vigo-Teneriffa waren für mich bisher zwei herausragende Erlebnisse auf dieser Reise.“

Jerit: 1. “ …, dass ich „Tages-Toppsi“ (Schüler bzw. in diesem Fall Lehrer, der für einen Tag die Rolle des Toppsgasten übernehmen darf) sein durfte und diese Aufgabe gut gemeistert habe!“
2. „Die Delfine, die im Leuchtplankton durch das Meerwasser geschwommen sind und natürlich mein Geburtstag hier auf der Reise waren wirklich schöne Erlebnisse: Ich wurde mit einer Tasse Kakao am Bett geweckt, es war „Seemannssonntag“ (= Donnerstag) und es gab ein besonders gutes Frühstück – und es wurde ein Kuchen für mich gebacken und ein Ständchen zum Besten gegeben.“

Tom L.: 1. “ …, dass ich in der „Sturmnacht von Cherbourg“ mit nur drei weiteren Leuten an Deck (Jürgen, Freyja, Kjell) den Vor-Topp gebrasst habe.“
2. „Die Wal-Sichtung auf der Etappe Vigo-Teneriffa (Gustav) war für mich deshalb ein besonderes Erlebnisse, weil sie für mich das Zeichen dafür war, dass wir nun so richtig, richtig auf See sind und die Reise gen Süden nun wirklich begonnen hat.“

„Randvoll“ schöner Erzähl-Eindrücke über persönliche Erfolge und besonders schöne Erlebnisse/Momente unserer bisherigen HSHS-Reise beschließe ich mit dem Läuten der Schiffsglocke zur täglichen Kaffee-und-Kuchen-Pause (auch aus (textplatz-)pragmatischen Gründen), mein geplantes „Tageswerk“ zu einem „Zwei-Tages-Werk“ zu erklären. Denn jetzt ist es endlich soweit: Zur großen Freude Verenas, die bei der Verlosung der Adventskalendertürchen das Türchen mit der Nummer 1 gezogen hat, darf sie nun hinunter in den Gang vor die Toppsi-Kammer treten und das erste Adventskalendertürchen abhängen, zurück an Deck kommen, wo sie es unter warm-weihnachtlichen „Schneeflöckchen-Gesang“ der gesamten Bordbesatzung öffnen darf. Wie fast alles an Bord wird auch die „Ausbeute“ des Adventskalender (Gelee-Früchte, Waffeln, Marzipan-Nugat-Schokolade und Fishermanfriends) „christlich“ – oder wie man hier sagen würde – „seemännisch“ geteilt.

In diesem Sinne und mit vorweihnachtlichen Grüßen mitten vom Atlantik: Fortsetzung ist in Arbeit und folgt …
Katharina

P.S.
Die gesamte Schiffsbesatzung bedankt sich ganz, ganz herzlich für die unerwartete und nette Eltern-Initiative, die uns heute eine tolle „Adventsüberraschung“ in Form von Miniadventskalendern bescherte – großes Dankeschön dafür!!!

Wie ist das so?

Datum: 30. November 2017
Position: 18°00,0’N, 029°24,4’W
Etmal: 96 NM
Wetter: Wasser 27°C, Luft 27°C, Wind 4 Bft.
von Johanna (Stamm)

Lübeck/Bremen/irgendwo in Deutschland, irgendwann im Frühjahr 2017:
„Und, was machst du nun nach deinem Studium? Hast du schon eine Stelle? Wann geht“s los?“
„Nein, eine Stelle habe ich noch nicht, brauche ich auch noch nicht, denn ich gehe erstmal auf Reisen…“
„Oh, wie toll! Ja, das ist eine großartige Idee… Wohin geht“s denn?“
„Segeln…“
„Segeln? Wohin?“
„Ähm – nach Panama…“
„Was? Nach Panama?!? Und wie lange dauert das?“
„Etwa drei Monate!“
„Drei Monate?! Und wochenlang nur auf See, ohne Hafen? Und mit 45 anderen Menschen? Und 30 Schülern? Oha – und wie ist das so?“

Solche Gespräche habe ich viele geführt vor der Abreise. Die Reaktionen auf meine Ankündigung, statt in den Beruf zu starten, erst einmal in See zu stechen, waren durchaus unterschiedlich. Sie reichten von ungläubigem Staunen über Besorgtheit und leichtes Gruseln hin zu sehnsüchtigem Neid. Immer aber kam die Frage, wie das sei, so lange auf See, wie sich das denn anfühle. Darauf konnte ich nie richtig antworten: Ich war schlicht noch nie so lange auf See gewesen und über den Atlantik war ich erst recht noch nie gesegelt. Es würde wohl schon gut werden, anders als andere Törns, sicher, aber bestimmt irgendwie gut – mehr konnte ich nicht sagen. Jetzt sind wir seit sieben Wochen unterwegs, vor gut einer Woche haben wir die Atlantiküberquerung begonnen – und so langsam kann ich ein paar Antworten geben.

So lange auf See zu sein bedeutet, das Meer in all seinen Stimmungen kennenzulernen; das stürmisch aufgepeitschte, dunkle und kalte genauso wie das freundliche, sanft wiegende und leuchtend blaue Meer. Es bedeutet, einen Rhythmus zu finden, der bestimmt ist von Wache, Essen und Schlafen, von Segelmanövern, Crewbesprechungen und Schiffserhalt. Es bedeutet Verzicht – auf durchschlafene Nächte, auf tägliche Duschen, auf Privatsphäre, auf Familie und Freunde und auch darauf, einfach in den Supermarkt gehen und sich Obst kaufen zu können.

So lange mit so vielen anderen Menschen zusammen zu leben bedeutet, Kompromisse zu finden, sich Regeln zu geben, Rücksicht zu nehmen. Es bedeutet, zu streiten und sich wieder zu vertragen, es erfordert, Konflikte auszutragen statt sie auszusitzen – denn das funktioniert hier garantiert nicht. Es bedeutet auch, Menschen auf eine so unverstellte Art kennenzulernen, wie es an Land kaum möglich ist. Wenn man gemeinsam Stürme und Seekrankheit übersteht, zusammen die Weite des Meeres und die Tiefe des Sternenhimmels sieht, miteinander über Delfine und Wale staunt und einander in jeder Stimmungslage erlebt, dann lernt man einander wirklich kennen.

Mit einem Schiff in andere Länder zu reisen heißt, ein Gefühl für die Entfernungen und die Größe unserer Erde zu bekommen. Da passiert es einem nicht, dass man aus dem Flugzeug steigt und in Gedanken noch Zuhause ist. Wenn man wochenlang unterwegs ist, um ein Ziel zu erreichen, dann ist man, wenn man ankommt, auch wirklich und wahrhaftig da. Man lernt aber auch, das Unterwegssein zu genießen und nicht die Tage bis zum Ankommen zu zählen. Und man bekommt eine Ahnung von den Leistungen früherer Seefahrer, die mit solchen Schiffen, aber viel weniger technischer Ausrüstung noch viel weitere Fahrten unternommen haben.

Inzwischen kann ich sagen: Es fühlt sich gut an! Es fühlt sich gut an, mit all diesen wunderbaren Menschen zusammen zu sein. Es fühlt sich gut an, trotz oder vielleicht gerade wegen des Verzichts auf so Vieles, was sonst den Alltag bestimmt, glücklich und zufrieden zu sein. Stunden damit zu verbringen, einfach aufs Meer zu schauen, die immer anders aussehenden Wellen zu beobachten und vielleicht ein paar fliegenden Fischen hinterher zu sehen. Sich von den langen Atlantikwellen in den Schlaf wiegen zu lassen. Sich darüber zu freuen, nach einigen Tagen allein auf See mal wieder das Licht eines anderen Schiffes am Horizont zu sehen. Mit einer gut eingespielten Crew Segelmanöver zu fahren. Nachts in kurzen Klamotten im warmen Passatwind an Deck zu sitzen und Sternenbilder zu suchen. Ja, drei Monate. Ja, wochenlang auf See und ohne Hafen. Ja, mit 45 anderen Menschen. Wie das ist? Das ist einzigartig, anstrengend und wunderschön!
Johanna

P.S.:
1. Die Roald grüßt alle daheimgebliebenen Roaldies – es geht mir großartig! Ich wiege mich in den warmen Atlantikwellen, spiele mit Delfinen und Walen und freue mich, dass neben der üblichen Segeltheorie auch mal so spannende Dinge wie Geographie und Spanisch unterrichtet werden – da lernt auch ein so weit gereistes Schiff wie ich noch ein Menge dazu! Also macht euch keine Sorgen um mich

2. Viele Grüße an Anna-Lena – ich freue mich auf ein nachgeholtes Weihnachtsliedersingen im Februar!

3. Mit lieben Gedanken ganz viele Grüße und Drücker mitten vom Atlantik für Miri und Hannah Ehlert und Tirza in HH sowie Nasti, Ati und Peter in Berlin! (Katharina)

4. Mom, Paps, Sarah – wie schön!!! *strahl* Vielen lieben Dank! Ihr seid die Besten! Habt auch eine wunderbare Adventszeit! Ich denke an euch! (Annika)

5. Der graue Wolf grüßt ganz lieb sein BHRT :-D*