Momentaufnahmen bei Seegang

Datum: 5. November 2018
Position: 36°30,5’N, 014°45,8’W
Etmal: 179 sm
Wetter: 16,6°, windig
von Claudi

Liebe virtuelle Reisegemeinschaft, unser nächstes Ziel heißt Madeira und von dort können wir euch dann sicherlich auch mal einige Impressionen unserer bisherigen Etappe zusenden. Dass sich die tatsächlichen Erlebnisse unserer Reise vermutlich nicht auf Fotos festhalten lassen, wisst ihr hierbei genauso gut wie wir. So wie etwa das Erlebnis, sich an einem Tag mit gehörigem Seegang für einen kurzen Moment in die Messe zu setzen. Man lausche dort den vorbeiziehenden Geräuschen und Stimmen, um jeden Restzweifel daran, dass man in einem Irrenhaus gelandet sein muss, zu beseitigen.

60 Sekunden Momentaufnahme bei Seegang, Messe, 15:30
Aus der Kombüse hört man einen kleinen Streit. Irgendetwas sei wohl im Kühlschrank ausgelaufen und müsse sofort aufgewischt werden. Aus der anderen Richtung kommt Myriam mit angeekeltem Blick vom Deck herunter. Sie müsse zum Waschbecken, weil sie vorhin beim Sezieren eines an Deck gelandeten Fisches dessen Gehirn in der Hand hielt. Jakob rutscht mit der nächsten Welle auf seinem Hocker 1 bis 2 Meter durch Messe, während Justus Aaron verzweifelt dazu überredet, seinen verbleibenden Backschaftsdienst gegen 4 Stunden Abendwache zu tauschen.

60 Sekunden Momentaufnahme bei Seegang, Messe, 19:02:
Zum Abendbrot sind heute nur 12 Personen erschienen, die im Takt der Wellen hin- und herschunkeln, vom Manövrieren, Festhalten und Ausbalancieren größtenteils erschöpft vor sich hinschweigen und nicht die geringste Miene verziehen, wenn Gerutsche, Geklirre oder Gefluche aus der Kombüse erklingt. Zwei der Schunkler können angeblich kein Brot mehr sehen und machen sich mit der einen Hand, mit der sie gerade nicht ihr Besteck und ihre Tasse festhalten, darüber her, die vorhanden Aufstriche als Hauptmahlzeit zu essen. Eine Welle schwappt durch das seit dem Lüften versehentlich offen gelassene Kombüsenoberlicht und landet direkt auf der gerade zubereiteten Käseplatte. Salziger Käse sei doch nichts schlimmes, ruft der ebenfalls plitschnass gewordene Jürgen mit nun am Kopf klebenden Haaren und nassem T-shirt. Er sei da rustikal, beteuert er schulterzuckend und schiebt sich wie zum Beweis eine Scheibe Käse in den Mund. Große Welle. Ein Glas und einige andere unbewachte Dinge werden vom Tisch gefegt, landen klirrend auf dem Boden und rutschen dort freiheitsliebend hin und her. Die Mienen der anwesenden Schunkler scheinen eine kleine Regung zu zeigen. Justus, der – nach wie vor wie vor in der Backschaft – sich an diesem Tag durch rein gar nichts mehr aus der Ruhe bringen lässt, stellt mit gleichgültiger Miene eine nun mit großen Glasscherben dekorativ verzierte Teewurst wieder vor mir zurück auf den Tisch. Die könne man noch essen, zitiert er Jürgen emotionslos, wir seien da schließlich rustikal.

60 Sekunden Momentaufnahme bei Seegang, Messe, 19:03
Bislang hat es nur die Teewurst wieder zurück auf den Tisch geschafft (die wir natürlich nicht mehr gegessen haben, liebe Eltern). Irgendwo fällt eine weitere Gabel runter, die nun ebenfalls auf dem Borden umherrutscht. Die wenigen anwesenden Schüler schauen teilnahmslos drein. Die Erfordernis, dem Chaos Heer zu werden, ist groß, aber klein im Vergleich zu meiner ganz persönlichen Herausforderung: Die Anhäufung der geschilderten und vieler weiterer Absurditäten macht sich in einem Verzweiflungslachkrampf Luft, den ich verheimlichen muss. Denn genau in diesem Moment kommen zwei Stammleute in die Messe und regen sich über das ihnen präsentierte Chaos auf. Anzeichen von Aktivität auf den Mienen der Schunkelnden lassen sich nur bedingt erkennen. Weder die beiden Stammleute, noch die Schüler sehen in diesem Moment so aus, als ob sie Verständnis für eine lachende Lehrerin hätten. Die Situation ist ganz und gar nicht zum Lachen, aber meine Absurditätenaufnahmeobergrenze ist erreicht und läuft über und das umso mehr, desto mehr ich versuche, situationsbezogen eine ernste Miene aufzusetzen. Der Griff zum Kehrblech rettet mich. Für mein nicht bekämpfbares Grinsen hätte hier gerade niemand Verständnis und unterm Tisch kehrt und grinst es sich unbeobachtet und unverwerflich.

60 Sekunden Momentaufnahme, Messe, 19:08:
Ich habe es nicht geschafft, meine Freude geheim zu halten. Wie ich in dieser Situation denn noch lachen könne, fragt mich Fynn. Die anderen Schunkler schweigen nach wie vor unbeeindruckt, während sie weiterhin Dinge festhalten und essen. Es muss ein kurzer Moment des Übermutes in mich gefahren sein. Dass ich nur kurze Zeit später an Deck von einer Welle überrascht und dann ich diejenige sein würde, die mit nassen Haaren und vollgelaufenen Gummistiefeln nicht mehr viel zu Lachen hat, wusste ich in diesem Moment noch nicht.

Und außerdem hätte ich auch ohne Übermut allen Grund zur Freude gehabt. Mein Grinsen resultiert nämlich – da bin ich mir sicher – daher, dass all das seegangsbedingte Chaos, die Müdigkeit, die kleineren Konflikte und Genervtheiten einfach nicht vor mir nicht verbergen können, dass es unseren Schülern hier an Bord richtig gut geht! Und dass die vermeintlichen Ärgernisse und kleinen Schönheitsfehler unseres Bordalltages doch in Wahrheit von einem immer dicker werdenden Polster aus um sich greifender Zufriedenheit und aus vielen kleinen individuellen Glücksmomenten aufgefangen werden.
Claudi


Neu im Blog:
Abreise in Hamburg
213 Bilder aus Hamburg

 

Herzlichen Dank für die Fotos an die HSHS-Eltern…!!!


 

Und jedem Anfang …

Datum: 8. Oktober 2018
Position: 52° 39,8’N, 013° 03,4’E
Etmal: 10,256 Schritte
Wetter: Wasser: 13°C, Luft: 11°C, Windstärke 4
von Claudi

Eigentlich ist es ja schon so, dass ich die Art von Unvorhersehbarkeit gern mag, die man vor bevorstehenden Reisen empfindet. In diesen Tagen vor der Abreise zu einer 6,5-monatigen Reise merke ich dennoch, dass meine Vorfreude auch von ein wenig Wehmut begleitet wird. Ihr kennt das bestimmt: wenn man etwas zum vorerst letzten Mal für eine lange Zeit sieht oder macht, dann sieht oder macht man es auf einmal mit sehr viel höherer Wertschätzung. Mein Kopf jedenfalls wollte in den letzten Tagen auf einmal alle möglichen Situationen noch einmal so richtig auskosten (die letzte Chorprobe, das letzte Treffen mit Freunden und Familie, der letzte Gang durch das Lieblingsviertel…), obwohl die Gedanken doch im Grunde schon eingenommen waren von Impfungen, Unterrichtsreadern, Packlisten…

Ob wohl die alten Seefahrer, auf deren Spuren wir reisen werden, vor ihrem Aufbruch auch immer etwas zögernd über die Schulter geschaut und etwas Zeit gebraucht haben, um sich innerlich vorerst zu verabschieden von vertrauten Personen, Landschaften und Routinen?

Ich ahne, dass sie mich angesichts der heutigen Möglichkeiten – nach erfolgreicher Atlantiküberquerung erst einmal zu Hause anrufen zu können – auslachen und mir zurufen würden: „Ach – deine Chorproben, deine Familie und deine Freunde, dein Lieblingsviertel – all das wird doch noch da sein, wenn du wiederkommst! Carpe Ventum!“

Recht hätten sie wohl, denke ich und möchte rufen: Leinen los! Die Herausforderungen einer solchen Seereise, die Insiderwitze unserer Bordgemeinschaft, das Meer jeden Tag zu sehen und doch immer woanders zu sein und die Nachtwachen unterm Atlantikhimmel werden es sein, von denen wir uns dann tatsächlich verabschieden werden müssen – zum Glück erst in einem halben Jahr.
Claudi