Ostern, Politik und vorfreudige Wehmut

Datum 21. April 2019
Position: 45°11,7’N, 014°55,5’W
Etmal: 133 sm
Wetter: Luft 12,4°C, Wind N, 2 Bft.
von Nathalie

Ihr Lieben zuhause, die letzten Stunden des Politikunterrichts an Bord waren dem Thema „Das gute Leben und Demokratie“ gewidmet. Was ist das, „das gute Leben“? Was bedeutet das für jeden einzelnen von uns? Und für die Menschen, denen wir auf unserer Reise begegnet sind? Kann es ein gutes Leben für alle geben? Und was hat das ganze überhaupt mit Demokratie zu tun? Als Abschlußarbeit hatten die Jugendlichen die Aufgabe, sich ein Foto der Reise aus unserem Riesenfundus auszuwählen und einen Zusammenhang zwischen dem Thema und unserer Reise aufzuzeigen. Ich habe viele nachdenkliche, reflektierte, tiefgehende, spannende, interessante und auch lustige Arbeiten von den Jugendlichen bekommen.

Im Folgenden sind nun einige wenige Ausschnitte von einzelnen Schülerinnen und Schülern aufgeschrieben. (Es gab noch viele weitere tolle Arbeiten, die Auswahl hier spiegelt eine Bandbreite an Themen wider!) Vielleicht „erkennt“ ihr das ein oder andere Foto aus dem Blog.

„Der Kontext zu unserer Reise ist, dass man vorher nie wahrgenommen hat, wie groß das Wirtschaftssystem auf See ist, da man es sonst gar nicht wahrnimmt. Wenn man dann auch erstmal versteht, wie viele Güter aus unserem täglichen Leben über See kommen, nimmt man mal wahr, was für ein logistisches System dahinterstehen muss.“ Jonathan

„Zusammen durch Schlechtwetter und Nachtwachen, über den Atlantik, gerissene Segel und misslungene Backschaften, ordentlicher Anschiss und schönes Lob – beides meistens verdient. Und dann feiern wir alle zusammen Heiligabend, in fröhlich ausgelassener Stimmung.“ Aaron

„Während unserer Reise waren wir in Costa Rica, Panama, Kuba und Martinique, wo es tatsächlich nicht nach viel Reichtum aussah. Diese Eindrücke sind wichtig für das Verständnis der Verhältnisse, die in dieser Welt herrschen. Sonst kennen wir oft nur Bilder aus dem Internet und die Meinung der Presse. Es ist wirklich wichtig, dass wir uns unsere eigenen Meinungen bilden können. Erst dann sind wir tatsächlich berechtigt über die Situationen, die in anderen Ländern herrschen, zu urteilen. Für mich ist das gute Leben, wenn man seine eigenen Vorsätze und Standards erfüllt hat und in Frieden und Sicherheit leben kann.“ Doreen

„Ich habe dieses Foto ausgesucht weil es erstens vom Anblick her echt farbenfroh ist, Freude und Lebendigkeit zeigt und eben das zu diesem Törn passt. Das Bild zeigt das gute Leben an Bord. Wir haben viel Freizeit zwischen den Wachen und wenn dann auch noch schönes Wetter ist, kann man echt coole Sachen machen und einfach mal das Leben genießen. Demokratie ist für mich Freiheit. Freiheit bedeutet, wenn Bürger nicht eingeschränkt werden. Ich beziehe das System mal auf das Bordleben auf der Johann Smidt. Demokratie sehe ich an Bord zum Beispiel bei Meinungsfreiheit. Jeder von uns darf seine Meinung sagen und diese wird von gewählten Deckshandvertretern vertreten und weitergeleitet an die Stamm- und Lehrercrew. Die Mehrheit entscheidet und jede Meinung zählt gleichviel. Norbert als Kapitän hat im Endeffekt aber doch die komplette Entscheidungsgewalt. Was ist wichtiger: Sicherheit oder Freiheit?“ Locke

„Dieses Foto zeigt auch die Globalisierung. Wegen der Globalisierung kann ich im Ausland ein chinesisches Restaurant besuchen. So können wir auch im Ausland ein einheimisches Leben führen, das ist das gute Leben für mich.“ Lehan

„Und dieser Wasserfall war wohl nicht der einzige paradiesisch scheinende Ort, den wir auf unserer Reise besucht haben. Auf den San Blas Inseln lebten wir viele Tage im Paradies, in Costa Rica schien alles sorglos, auf Kuba hatten wir eine schöne Zeit und auf Bermuda und Faial sahen wir auch schöne Orte. Doch egal wie schön der Tag, wie strahlend die Sonne, wie gut das Essen, wie paradiesisch die Orte: Immer sah man unschöne Dinge, traurige Wahrheiten oder man selbst hatte irgendwelche Sorgen und Probleme. Unabhängig von unserer Umwelt hatten wir die unterschiedlichsten Stimmungen. Es ist trotzdem ein gutes Leben, das wir führen. Unsere Probleme beschränken sich auf emotionale Dinge, gruppeninterne Angelegenheiten oder familiäre Probleme. Selten müssen wir Angst vor etwas haben, eigentlich nie den Staat fürchten (wie es die Menschen in manchen Stationen unserer Reise müssen). Die wenigsten, vor allem auf unserer Reise, haben Geldsorgen. Wir leben alle in schönen Häusern oder Wohnungen, können essen, was wir wollen. Wir werden zuhause in Wenigem eingeschränkt und fühlen uns sicher. Das wir alle diese Freiheiten und Sicherheiten haben, zeigt offensichtlich unser aller gutes Leben. Und dass wir so leben dürfen, verdanken wir zu einem großen Teil unserer Herkunft, also nicht nur dem Land, in dem wir leben, sondern auch unserer Familie.“ Flo

„Ich habe das Bild gewählt welches beim frühzeitigen Abstieg des Pico del Teide geschossen wurde. Der Pico del Teide und Teneriffa war der letzte Ort vor der Atlantiküberquerung. Der letzte Ort bevor wir, 25 Schüler und 4 Lehrer und Stammbesetzung, uns drei Wochen ins Unbekannte stürzten, ohne zu wissen, was uns bei der Überfahrt erwartet. Aus dem Grund verkörpert das Bild das „gute Leben“ und Demokratie besonders gut. Es stellt die Reisefreiheit dar, welche für ein gutes Leben verantwortlich ist und auch in der Demokratie eine große Rolle spielt. Uns wurde ermöglicht, die Welt zu sehen und zu bereisen, was zeigt, dass wir in einer freien Demokratie leben. Um ein gutes Leben führen zu können, muss man die Möglichkeit haben, sich selbst zu entfalten und neu zu entdecken. Außerdem verkörpert das Bild auch eine intakte Umwelt, was auch wichtig ist, um ein gutes Leben führen zu können. Danke an Linqi, dass du so ein bedeutsames Bild geschossen hast.“ Fynn

„Es war früh morgens, am zweiten Tag vor Anker in Funchal. Wir entschieden uns vor dem Frühstück ins noch relativ kalte Wasser zu springen. Gesagt, getan. Das Bild wurde gegen 6:30 Uhr gemacht. Madeira war der erste Stopp, bei dem wir vom Schiff aus ins Wasser springen durften, daher waren wir so glücklich. Zufällig ist ein riesiges Kreuzfahrtschiff an uns vorbeigefahren. An Land haben die Passagiere uns angesprochen, ob wir das gewesen wären: Sie haben uns vom Kreuzfahrer ausgesehen. Was hat das Bild mit dem Guten Leben zu tun? Eigentlich muss man dazu nicht mehr viel sagen. Das zeigt das Bild schon ganz gut. Wir hängen vor einer schönen Insel von unserem Boot herunter. Wir haben alles was wir zum Leben brauchen und dann noch einiges oben drauf. Wir führen wirklich ein Traumleben hier von dem viele Menschen nur träumen können“ Inja

„Hauptfigur des Fotos ist Ulli. Ulli ist ein schon älterer Mann, der uns als Steuermann mit Unterbrechung seit Hamburg begleitet. Normalerweise sind Menschen, die so alt sind wie Ulli, zuhause oder im Altersheim. Sie arbeiten nicht und obwohl sie genug zu Essen haben ist ihr Geist nicht ausgefüllt. Ulli arbeitet noch, wie man auf dem Foto sehen kann. Er wird mit einem Schiff wegfahren obwohl er nicht von Clipper dafür bezahlt wird. Segeln ist einfach sein Hobby. Er macht etwas Sinnvolles und hat Spaß dabei, somit ist sein Geist erfüllt. Auf dem Foto sieht man auch zwei junge Männer, die auch mal bei HSHS mitgefahren sind. Segeln verbindet somit junge und alte Menschen und immer neue Menschen können in den Kreis aufgenommen werden. Ulli ist wie ein Gärtner: Er hat die Samen der Blumen gesät und sie wachsen lassen und jetzt blühen zwei neue Blumen. Wenn die [Segel] Schüler besser und besser werden, freuen sich die Lehrer und sind stolz darauf.“ Linqi

„Auf der gesamten Reise haben wir uns alle entwickelt und verändert. Zusammen! Dieses Gefühl, dass man hat, wenn man zusammen in der Gruppe ist. Sich wohl fühlt und spürt, dass man hier richtig ist, das soll dieses Bild ausdrücken. […] Zu dieser Zeit haben wir uns frei gefühlt und diese Freiheit bedeutet das Bild für mich. Aber der große Kontext besteht daraus, dieses Gefühl der Gemeinschaft zu erleben und zusammen Abenteuer zu erleben“ Josi

Die Abschlussarbeiten der Schüler und Schülerinnen haben mich nach all den Monaten des gemeinsamen Reisens, Lernens und Lebens beeindruckt und bewegt. Die letzten 7 Monate waren ein Geschenk: Die Jugendlichen dabei begleiten zu dürfen, wie sie Neues lernen, wie sie sich auf fremde Menschen und Länder einlassen, versuchen, einen Sinn aus all dem Erlebten und Gesehenen zu erschließen und sich so ein neues, größeres, komplexeres Bild von der Welt machen. Und natürlich, nicht zuletzt, tagtäglich einen nicht immer einfachen aber immer aufregenden Bordalltag und das enge Miteinander meistern.

Die Vorfreude auf Zuhause und das Wiedersehen ist groß – man spürt die Vorfreude in jedem kribbeln. Und doch, habt Geduld mit uns Heimkommenden wenn wir ein ums andere Mal der Johnny, dem Meer, der Fremde, der Gemeinschaft und den liebgewonnenen Alltäglichkeiten hinterher trauern und uns seufzend an die Fenster setzen.

An Bord war heute übrigens ein ganz besonderer Sonntag: Ostersonntag. Der Hase war heute früh unterwegs, um seinesgleichen – aus Schokolade und verpackt – überall auf der Johnny zu verstecken. Nach der ersten Schlemmerei des Tages – French Toast und bunte Eier, frisch gebackenes Brot und Porridge – gingen alle auf die Suche. Die Hasen versteckten sich in Schränken, Backskisten, Proviantlasten, hinter, unter und über Bäumen und Masten, hinter Büchern und Matratzen, vor Lampen und zwischen Coladosen. Ein einsamer Hase wollte hoch hinaus und wurde am Fallbeiholer entdeckt.

Und dann ging die Schlemmerei bei bester Stimmung weiter – ein Schwein hat sich in Bratenform auf unseren Tisch gesetzt und es sich mit Kartoffeln und einer klassischen Alexandrinischen Soße dort und später in unseren Mägen gemütlich gemacht. Die Suche, das Lachen und die entspannt fröhliche Feiertagsstimmung gingen weiter während in der Kombüse schon für die nächste Schlemmerei gewerkelt wurde: Ein Osterzopf wurde geknetet, geflochten, gebacken und zum Kaffee freudig und dankbar verspeist.

Ein Reise- und ein Wanderhase wurden den ganzen Tag auf und unter Deck gesichtet und haben am späten Abend dann doch noch ihre letzte Reise in die Mägen hungriger Wachgänger angetreten.
Alles Liebe, Nathalie