Die Zeit zurück drehen?

Datum: 27. April 2016
Position: 51°00,1’N, 001°39,2’E
Etmal: 76 nm
Wetter: Wasser 10°C, Luft 9,5°C, Wind 4-5 Bft.
von Melinda

Die Tage streichen davon und irgendwie habe ich das Gefühl, hinterherlaufen zu müssen und gleichzeitig die Zeit zu stoppen und dann wird mir immer wieder aufs Neue klar, dass diese Reise bald ihr Ende gefunden hat, die Zeit noch nie aufzuhalten war und plötzlich ist man total überfordert und fragt sich, ob man wirklich alles aus diesen 7 Monaten herausgeholt hat.

Neulich haben wir in unserer Lernphase eine Reflexionseinheit gehabt mit der Intention, eine Timeline von der ganzen High Seas Zeit zu erstellen. Wie viele Seiten brauche ich? Mhhh… ich glaube drei! Falsch gedacht! Ich bin bei den Bermudas angelangt und habe bereits mit meiner sechsten Seite angefangen. Meine Timeline sieht aus wie ein einziges Chaos ohne jegliche Struktur und ohne roten Faden, aber ich habe gemerkt, dass es doch tausend kleine Erlebnisse gibt, die ich durchlebt habe, die ich schon wieder total vergessen habe, da sie am Anfang der Reise geschehen sind. Irgendwelche Witze, Abende, Weckeinheiten etc. Plötzlich kommt alles hoch und diese großen Landaufenthalte wie Costa Rica teilen sich in tausend kleine Dinge, die einen an diese tolle Zeit erinnern und in deiner Timeline steht nicht ganz groß „COSTA RICA-Landgang“, sondern dass man auf der Expi aus der Hängematte gefallen ist.

Ihr müsst Euch vorstellen, dass diese letzen Tage auf der Roald ein totales Gefühlschaos erzeugen und man mit dem Erstellen dieser Timeline erst merkt, wie viel man eigentlich erlebt hat. Gleichzeitig aber denke ich an so kleine Momente zurück und werfe mir immer wieder vor, die Zeit nicht ausgiebig genutzt zu haben. Landgänge, die man ausfallen lassen hat, weil man zu müde war?! in Kuba?! „Nein, ich gehe nicht ins Wasser – mir ist zu kalt!“ Auf den Bahamas?! Rumzusitzen und zuzuschauen während wir in einem afrikanischen Dorf in Kuba die Götter tanzen sehen, anstatt mitzutanzen?! Nicht ins Rigg zu gehen, weil einem das Wetter zu schlecht und schauklig war?! In der Karibik auf ein Schwimmabenteuer zu einer unbewohnten Insel zu verzichten, weil man Angst vor gefährlichen Tieren (in meinem Fall) gehabt hat?! Auf ein leckeres Essen in Mexico verzichten, weil es einem zu teuer war und tausend Dinge, die man nicht getan hat, weil man zu faul war!

Jetzt befinden wir uns mitten im kalten Europa auf See mit Nachtwachen um die 6 Grad und ich denke immer wieder darüber nach, dass ich höchstwahrscheinlich nie wieder nach Costa Rica oder Kuba kommen werde und somit diese kleinen Dingen einfach weg, spurlos verschwunden sind und einem einfach nur die Erinnerungen bleiben von den Tagen, die man wirklich gelebt hat und die Tage, die man nicht genutzt hat, mit der Zeit in den Erinnerungen verweilen werden und einfach nicht mehr da sind.
Melli

P.S.: Ich grüße ganz herzlich Onkel Hubertus und Onkel Poppel! Zudem grüße ich meine kleine Schwester und möchte ihr den Tipp auf den Weg geben, wenn sie auch diese Reise wie ich antreten wird, jeden Tag zu nutzen und, auch wenn du kotzend über dem Schanzkleid hängst, an alle Momente zurück denkst, die für dich diese Reise geprägt haben! Mami und Papi, bald bin ich wieder da und ich kann es kaum erwarten euch in Kiel von der Roald aus zu sehen! Liebe Grüße auch an den kleinen Mucki!